Sonntag, 29. März 2015

Drei Tage Gagausien in Wahlkampfzeit. Ein kurzer Reisebericht.


“Serios,” sagt er, zieht noch einmal an seiner Zigarette, dreht sich zu mir und wiederholt: “Du-te direct la Cahul, nimeni nu merge în această direcție”. Ich soll doch lieber nach Cahul fahren, denn keiner wird dahin fahren, wo ich hingehen will. Obwohl mein bisheriger Optimismus anfängt, leichte Brüche zu verzeichnen, versichere ich ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Er will aber nichts davon hören und als wir an zwei Männern vorbeifahren, die er trotz der fehlenden Uniformen als Polizisten identifiziert, hält er an und bittet sie, so nett zu sein, mich zu meinem Ziel zu bringen, denn sonst werde es nicht klappen. Die beiden sind aber nicht sonderlich begeistert und verweisen auf die nächste Kreuzung, die ich selber auch schon auf der Karte entdeckt hatte. Von dort aus sind es nur noch 25km. Nachdem ich einige Male bestätigt habe, dass ich mir sicher bin, dass ich von dort aus weitertrampen werde, lässt der Nüssehändler, der sich vehement darüber beschwerte, dass wohl nur Politiker ihre Waren über die Grenze nach Europa verkaufen könnten, mich an der besagten Stelle aussteigen. Nach 10km trennen sich schon unsere Wege, aber nicht bevor er mir seine Handynummer gegeben hat, damit er mich abholen kann, falls ich in einigen Stunden immer noch da stehe.

Vulcănești, gelegen in der südlichsten der vier Enklaven der “Autonomen Territorialen Einheit Gagausien” (Găgăuzia auf Rumänisch, Gagauz Yeri auf Gagausisch), ist mein Ziel für diesen Tag. Es ist eine der drei Städte des Gebietes, was aber nicht so viel heißt, wenn man sich bedenkt, dass die Gesamteinwohnerzahl der Region nur etwa 160.000 beträgt. Für viele ethnische Moldauer ist es trotz der geographischen Nähe aber etwas Unbekanntes. Schon meine Gastgeberin vom Vordertag hat hinsichtlich meiner Pläne große Zweifel geäußerst. Moldauische Studenten hätten ihr gesagt, da komme man nicht hin. Der Fahrer, der mich vom Stadtrand von Galați mitgenommen hat über die Grenze nach Giurgiulești, hat gemeint, ich sollte stattdessen gleich nach Chișinău fahren. In Gagausien hat man nichts verloren, scheint die allgemeingültige Meinung zu sein. Mich reizt es daher umso mehr.


Mein erster Eindruck von Gagausien

Es ist 9:45, als ich alleine an der Kreuzung in Slobozia Mare zurückbleibe. Um Punkt 11 stehe ich im am zentralen Platz von Vulcănești. Zwar gab es tatsächlich nicht viel Verkehr, aber ein kurzer Spaziergang durch das Dorf hat gereicht, um einen Fahrer zu finden; ein freundlicher, älterer Gagause, der entgegen den Erwartungen auch ziemlich ordentlich Rumänisch konnte. Keine nennenswerte Bildung und dennoch dreisprachig, ganz ungewöhnlich ist das nicht, da die Autonomie schließlich drei offizielle Sprachen hat. Mit ihm fuhr ich zu einer weiteren Kreuzung, wo ich nach kurzem Warten von einem moldauischen Bäcker im LKW auf dem Weg in die Stadt aufgegriffen wurde. Was er von den Gagausen hält? Ach, das sind doch auch einfach moldauische Staatsbürger. Sein Brot mögen sie auf jeden Fall. Dann muss er eben ab und zu mal Russisch reden, aber was soll das schon.

Denn das ist die gegenwärtige Realität des gagausischen Volkes, eine kleine ethnische Gruppe, die wahrscheinlich (hier ist man sich aber nicht einig) zu Zeiten des Osmanischen Reiches aus Bulgarien ins Russische Reich emigriert ist und sich in Bessarabien niedergelassen hat. Denn obwohl die Gagausen traditionell eine dem Türkischen sehr ähnliche Sprache reden und auch genetisch zu den Turkvölkern gerechnet werden, sind sie keine Muslime, sondern mehrheitlich orthodoxe Christen und haben mehr als 45 Jahre Sowjetunion ihre Wirkung nicht verfehlt. Heutzutage ist das Gagausische, wenigstens in den urbanen Kernen, zu einer eher symbolischen Sprache geworden. Vorhanden auf offiziellen Gebäuden und einigen bilingualen informativen Plakaten, aber nicht auf Menüs oder in der Werbung. Die alltägliche Kommunikation läuft in der Regel auf Russisch. Allzu gläubig wirken sie auch nicht mehr. Die Zahl an Kirchen ist beschränkt und keiner gibt sich die Mühe, ein Kreuz zu machen, wenn er an einem Gotteshaus vorbeikommt, wie man das aus vielen anderen mehrheitlich orthodoxen Regionen kennt.


Sowjetisches Ehrenmal in Vulcănești

Mit der Unabhängigkeit musste sich Moldau auf einmal selber um seine Minderheiten kümmern und konnte nicht, wie zu Sowjetzeiten, auf Moskau zurückgreifen, das bis dahin die meisten ethnischen Konflikte durchaus erfolgreich unterdrücken konnte. Schon 1989 hat das neue Sprachgesetz zu Auseinandersetzungen mit den russischsprachigen Minderheiten im Süden und am linken Ufer des Dnisters geführt. Wo man in Pridnestrowien (Transnistrien) aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke eine de facto Unabhängigkeit erlangen konnte, musste man in Gagausien einlenken und einigte man sich 1994 mit der moldauischen Zentralregierung auf einen autonomen Status innerhalb der Republik. Damals von vielen Beobachtern gehuldigt als eine der wenigen friedlichen Konfliktlösungen in der ehemaligen UdSSR, wird dies in Chișinău und Comrat nicht unbedingt so gesehen. Unterschiedliche Interpretationen über Implementierung und Kompetenzbereiche sorgen für eine dauerhaft angespannte Beziehung zwischen dem großen und dem kleinen Machtzentrum. Eine Gegebenheit, die Moskau in den letzten Jahren verstärkt versucht, für sich auszunutzen.


Wahlplakate in der Lenin-Straße, Comrat

Die starke Russifizierung der Gagausen schlägt sich nämlich auch in der Politik nieder. Was meine Reise gerade zu dieser Zeit so interessant machte, waren die lokalen Wahlen für das Amt des bașcan, des regionalen Gouverneurs, dessen Aufgabe es ist, die Belange der Gagausen gegenüber der Zentralregierung in Chișinău zu verteidigen. Obwohl alle Kandidaten nominal unabhängig waren, machten einige keinen Hehl daraus, von wem sie unterstüzt wurden. So war auf einem Plakat den Kandidaten Nicolai Dudoglo vor einem Kreml-Hintergrund zu sehen, im kargen Text wurde Putin erwähnt, für das Foto musste er sich aber anscheinend mit einem russischen Politiker zweiten Ranges zufriedengeben. Die Unterstützung Moskaus galt nämlich hauptsächlich der ehemaligen Kommunistin Irina Vlah, die sich nach ihrem Auschluss aus der Partei sofort mit den Sozialisten zusammentat. Nun ist, wie man bei der letzten Präsidentschaftswahl in Pridnestrowien beobachten konnte, der Segen Moskaus keine absolute Garantie für den elektoralen Sieg, es machte sie aber schon von vornherein zur Favoritin. Und ihre Rhetorik kommt in der Bevölkerung an, wie ich einem kurzen Gespräch mit einem hochbetagten Irina-Fan in Ceadîr-Lunga entnehmen konnte. Wo er denn Irina Vlah finden konnte, wollte er von mir, dem offensichtlich einzigen Touristen in einem weiten Umkreis, wissen. Tatsächlich hatte ich sie gerade gesehen und ihr kurz zugehört auf dem lokalen Markt, wo sie zwischen Äpfeln, Hühnern und Motorradersatzteilen ihre anti-europäischen Sentimente und Russlandliebe dem Publikum kundtat. Er hat sich sehr über die Auskunft gefreut und ging in Trab davon. 


Irina Vlah auf Stimmenfang in Ceadîr-Lunga

Am Vordertag, als ich versehentlich am zentralen Platz von Comrat in eine Wahlkampfveranstaltung hereinlief, war ich noch überrascht, sie nicht nur auf Plakaten zu sehen. In Ceadîr-Lunga stellte dann sich heraus, dass sie einfach omnipräsent ist. Und mit Erfolg, denn am 22. März stimmten 51% der Wahlberechtigten für sie, wodurch es sogar keiner zweiten Runde mehr bedurfte, um das höchste Amt der Autonomie neu zu besetzen.

In Gagausien geht das Leben dennoch weiterhin seinen gewohnten Gang. Die Phrasen auf den Wahlplakaten bezogen sich keineswegs auf die wirklichen Probleme der Region, wie die hohe Arbeitslosigkeit oder die Abwanderung junger Männer nach Russland und junger Frauen in die Türkei. Es ist nicht zu erwarten, dass sich da "Zusammen mit Russland", womit Irina Vlah warb, was ändern wird, denn statt einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage geht es die Regierung Putins vor allem darum, das Land Moldau zu destabilisieren, indem es einzelne Regionen loslöst.


Das Kino von Vulcănești

Es waren drei spannende Tage mit interessanten Erkenntnissen und überraschenden Begegnungen, aber auch ich könnte mir schwer vorstellen, mein ganzes Leben in diesem Gebiet verbringen zu müssen. Für junge Leute ist es, mit oder ohne Russland und mit oder ohne Arbeit, wenig attraktiv. Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung sind sehr begrenzt. Einiges, wie das Kino, hat die politische Transformation nicht überlebt, anderes ist nur eingeschränkt genießbar, vielleicht auch, weil es sich einfach nicht mehr lohnt, ganztags die Türen geöffnet zu haben. So hatte am Freitagabend in Vulcănești das feine Etablissement, das ich für mein Abendmahl auserkoren hatte und laut der Werbung am Eingang versprach, seinen Gästen sowohl traditionell gagausische Küche als auch Glücksspielautomaten zu bieten, zu. Andere Restaurants oder gar passabele Cafés gab es nicht oder man konnte sie einfach nicht sehen wegen der fehlenden Straßenbeleuchtung, was dazu führte, dass ich notgedrungen die Kassiererin des lokalen Supermarkts bitten musste, mich noch schnell hereinzulassen, damit ich mir ein paar Brötchen und einige Früchte kaufen konnte, um diese anschließend alleine im Hotelzimmer zu essen. In Comrat gab es immerhin noch Andy’s Pizza, die Imbisskette, die auch in Pridnestrowien und dem restlichen Moldau in jeder größeren Stadt die Bürger mit Fastfood versorgt. Letztendlich dann doch ein wenig nationale Einheit im Ganzen. Mit Oliven und Tomatensoße.

Weitere fotografische Eindrücke von Gagausien findet man hier.